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Aus der Schule in den Landtag

Nina Heidt-Sommer über ihren alten und ihren neuen Arbeitsplatz

Interview in HLZ Zeitschrift der GEW Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung

Ausgabe 7/8 2022

Nina Heidt-Sommer ist 44 Jahre alt, verheiratet und hat zwei Pflegesöhne im schulpflichtigen Alter. GEW-Mitglied ist sie seit ihren Studienzeiten, SPD- Mitglied schon etwas länger. Seit 2005 ist sie Lehrerin an der Ganztagsgrundschule Gießen- West, einer von inzwischen 13 gebundenen  Ganztagsgrundschulen in Hessen. Stadtverordnete in Gießen ist sieseit 2011. Im Dezember 2021 wurde sie – zu ihrer eigenen Überraschung – Mitglied des Hessischen Landtags. HLZ-Redakteur Harald Freiling sprach mit ihr über ihren alten und ihren neuen Arbeitsplatz.

HLZ: Aus der Schule in den Landtag, das kommt ja nicht allzu oft vor. 2019 wurdest du Mitglied im Hauptpersonalrat Schule, 2021 auf der Landesdelegiertenversammlung als Teamvorsitzende des Referats Schule und Bildung in den geschäftsführenden Landesvorstand der GEW gewählt. Dein Wechsel in den Landtag kam offensichtlich auch für dich überraschend?

Nina Heidt-Sommer: Das stimmt. Zu verdanken habe ich ihn der Wahl von Frank-Tilo Becher zum Oberbürgermeister der Stadt Gießen. Da kam ich als Ersatzkandidatin im Wahlkreis 18 zum Zug! Aber der GEW gehe ich mit diesem Wechsel nicht verloren, denn ich bleibe Mitglied der Vorstände der GEW Gießen und des Bezirksverbands Mittelhessen. Auch das Mandat als Stadtverordnete will ich weiter ausüben: Die Gespräche mit den Menschen vor Ort und an ihrem Arbeitsplatz sind mein Lebenselixier. Für die GEW ist das schön zu hören. Wie geht es dir nach einem halben Jahr im „härtesten Parlament der Republik“?

Die Arbeit im Landtag ist interessant und spannend und es macht Freude, wenn man die Möglichkeit hat, die pädagogischen und gewerkschaftlichen Erfahrungen in parlamentarische Initiativen umzusetzen. Chancengleichheit, bessere Arbeitsbedingungen, das sind auch im Landtag meine Themen.
Klar, der Opposition sind Grenzen gesetzt, aber ich glaube, dass ich in der Arbeit im Kulturpolitischen Ausschuss (KPA) und im Petitionsausschuss doch etwas erreichen kann.

Kannst du dafür Beispiele geben?

Im Petitionsausschuss geht es unter anderem um Menschen, die eine konkrete Bleibeperspektive benötigen. Im KPA musste sich der Kultusminister unserer Kritik stellen, dass die Änderung des Klassenteilers für die Intensivklassen (HLZ 5/2022) klammheimlich in der Anlage zu einem Schulschreiben vollzogen wurde. Dass ich in meiner ersten Rede im Plenum zu einem unterirdischen Antrag der AfD zum Thema „Cancel Culture“ sprechen durfte, war mir ein ganz persönliches Anliegen. Die Zwischenrufe und Pöbeleien aus der AfDFraktion haben mir auch noch mal gezeigt, wie wichtig das Engagement gegen rechts ist….

… zu dem du vor der Landtagswahl 2018 mit der Organisation eines Konzerts „Keine AfD in den Landtag“ beigetragen hast…

Ja, gemeinsam mit den Vorsitzenden der Ausländerbeiräte von Stadt und Landkreis Gießen. Überall, wo Rechtsextremisten auftreten, müssen Demokratinnen und Demokraten dagegen halten.

Wie werden denn deine bisherige berufliche Arbeit als Lehrerin und dein klares Bekenntnis zur GEW von den Kolleginnen und Kollegen im Landtag aufgenommen?

Sicher, da gibt es schon mal eine flapsige Bemerkung und es sind nicht alle begeistert. Aber dazu wird man ja auch nicht Mitglied des Landtags. Für mich sind die langjährige berufliche Erfahrung und die Verankerung in der GEW essentiell. Das sind die Fundamente, um überzeugend zu  argumentieren und klare Kante zu zeigen. Da wir ja hier bei der GEW sind: Für die muss ich mich nicht schämen. Die GEW ist in Hessen die Kraft mit der größten bildungspolitischen Expertise und der bestmöglichen Vernetzung, die die Probleme klar benennt, aber auch Lösungsmöglichkeiten aufzeigt. Das sind ihre Alleinstellungsmerkmale. Vielleicht sollte sie das auch noch viel mehr nach außen zeigen.

Titelthema der HLZ, in der dieses Interview erscheint, ist der Rechtsanspruch auf die Ganztagsbetreuung ab 2026. Wie hast du die Landtagsdebatte dazu wahrgenommen?

Wenn es um den Rechtsanspruch auf eine Ganztagsbetreuung geht, hat die Regierungskoalition keinen Plan, kein Konzept für die Umsetzung, für die Finanzierung, für das Personal. Hier drohen Flickschusterei, Billigmodelle und Scheinlösungen. Ich persönlich habe außerdem die Befürchtung, dass das Konzept der gebundenen Ganztagsschule, die Unterricht, Förderung und Betreuung in einer rhythmisierten Struktur verbindet, dabei unter die Räder kommt.

Aber auch im Antrag der SPD (HLZ S. 10f.) ist nur von einem Rechtsanspruch auf ganztägige Betreuung für Grundschulkinder die Rede…

Das stimmt nicht ganz: Wir reden von „Bildung und Betreuung“ und sagen im Antrag: „Was am Vormittag gilt, muss auch am Nachmittag gelten.“ Wir sagen ausdrücklich „kostenfrei“, „flächendeckend“ und „professionell“. Aber du hast recht: Die gebundene, rhythmisierte Ganztagsgrundschule ist ein Modell, nach dem alle Schulen, deren Gremien das wollen und beantragen, ausgestattet werden müssen.

Allerdings scheint es hier keinen großen Run zu geben.

Das kann ich auch gut verstehen. Eine gebundene Ganztagsschule braucht optimale Bedingungen für die Schülerinnen und Schüler und für alle Beschäftigten. Das ist teuer, aber nur so kommen wir dem Ziel der Chancengleichheit ein Stück näher.

Sind denn diese Bedingungen an der Grundschule Gießen-West, an der du 18 Jahre gearbeitet hast, erfüllt?

Natürlich müssen überall Abstriche gemacht werden und es ist immer von einem sehr hohen persönlichen Engagement abhängig. Zunächst als Vorbemerkung: Die Gießener Weststadt ist ein ehemaliger sozialer Brennpunkt, in dem Menschen aus über einhundert Nationen gemeinsam leben. Die Schule wurde in den siebziger Jahren nach skandinavischem Vorbild als Ganztagsschule gebaut, so dass wir zum Beispiel über die notwendigen Differenzierungsräume verfügen. Die Stadt Gießen zog als Schulträger immer mit und stellt das Personal für die Schulsozialarbeit. Die Beschäftigten in der Küche sind bei der Stadt angestellt und werden nach Tarif bezahlt. Ehrenamtliche aus den Vereinen im Stadtteil werden,
dort wo es sie noch gibt, einbezogen und fachlich, pädagogisch angeleitet und unterstützt. Bei den Arbeitsplätzen und Pausenräumen für die Lehrerinnen und Lehrer ist aber noch viel Luft nach oben. Ich bleibe dabei: Qualität gibt es nur mit besseren Arbeitsbedingungen. Das wird mein Credo im Landtag sein, und nicht nur für die Lehrerinnen und Lehrer, sondern für alle Beschäftigten in der Sozialen Arbeit, in der frühkindlichen Bildung, im Gesundheitswesen. Viele Kolleginnen und Kollegen gehen auf dem Zahnfleisch, werden krank, gehen früher in Rente oder Pension. Es macht mich richtig wütend, mit welcher Gleichgültigkeit manche Politikerinnen und Politiker dem gegenüberstehen.

Muss sich auch was bei der Bezahlung ändern?

Arbeitszeit, Arbeitsintensität und Bezahlung, das sind die zentralen Stellschrauben. Wenn sich daran nichts ändert, werden wir auch den Personalmangel nicht in den Griff kriegen. Als Grundschullehrerin, als GEW-Kreisvorsitzende und Landesvorstandsmitglied stehst du auch für die gleiche Eingangsbesoldung für Grundschullehrkräfte. Kommen wir mit der neuen schwarz-grünen Koalition in Nordrhein-Westfalen dem Ziel ein Stück näher? Das ist überfällig!

In Hessen haben CDU und Grüne schon vor vier Jahren angekündigt, dass sie zu diesem Thema „das Gespräch mit den Nachbarländern suchen“. Schließlich hat die Blockade der hessischen Landesregierung angesichts des hohen Frauenanteils in den Grundschulkollegien auch eine sexistische Komponente. Aber nochmal: Es geht nicht nur um Lehrkräfte. Es geht auch um die Beschäftigten in der Sozialen Arbeit, in den Kitas und Horten und in den Krankenhäusern. Wie siehst du in diesem Zusammenhang den Einsatz von Honorarkräften im Ganztag? Sicher gibt es künstlerische, handwerkliche oder Bewegungsangebote, die von Honorarkräften wunderbar entwickelt und umgesetzt werden können. Aber die Realität ist doch eine ganz andere: 40 Prozent der Lehrerstellen, die das Land Hessen für die unterschiedlichen Ganztagsprofile zur Verfügung stellt, werden in Geld umgewandelt, mit dem dann vor allem Honorarkräfte bezahlt werden. Die haben keine Lohnfortzahlungfortzahlung im Krankheitsfall, keinen Tarifvertrag, keinen Personalrat... Entprofessionalisierung und Qualität, das geht einfach nicht zusammen. Eine Ganztagsbetreuung, die hinter die Standards der Horte zurückfällt, ist für mich nicht akzeptabel, weder als Gewerkschafterin noch als Pädagogin.

Spätestens an dieser Stelle wird deiner Partei genauso wie der GEW vorgehalten, man würde ja all das gerne umsetzen, aber es gebe kein Personal. Habt ihr da Konzepte?

Wundermittel, die kurzfristig wirken, haben auch wir nicht. Aber ich will noch mal an die Signale erinnern, die CDU und Grüne seit ihrer ersten Koalition in Hessen 2013 gesendet haben, als sie eine Reduzierung der Zahl der Beschäftigten im Landesdienst angekündigt haben. Da ist so viel versäumt worden, so dass das Umsteuern jetzt schwierig wird. Zur Bezahlung der Beschäftigten in Kitas, Horten und Schulen habe ich schon was gesagt. Wir brauchen bessere Bedingungen an den Hochschulen, eine faire Vergütung auch während der Ausbildung, die Erleichterung des Quereinstiegs und natürlich auch mehr Anerkennung. Das geht nur mit einem ganzen Bündel von Maßnahmen.

Hast du denn das Gefühl, dass du für diese Anliegen im Landtag Gehör finden wirst?

Das wird nicht ohne langen Atem gehen. Ich bereite derzeit mit anderen in der Fraktion eine Antragsreihe zu den Arbeitsbedingungen
im hessischen Schuldienst vor. Die Frankfurter Arbeitszeitstudie der GEW, die vielen Überlastungsanzeigen, die vielen unbesetzten Schulleitungsstellen, das kann doch so nicht bleiben…

Im Herbst 2023 ist die nächste Landtagswahl. Wie geht es dann für dich weiter?

Also erst einmal werde ich mich ordentlich in den Wahlkampf reinhängen und dazu beitragen, dass die Themen, die mich umtreiben, im Wahlprogramm meiner Partei richtig platziert werden. Und ich werde in Gießen für eine Aufstellung als Direktkandidatin fighten und dann will ich auch gewinnen…

Nina, für die GEW und für unsere gemeinsamen bildungspolitischen und gewerkschaftlichen Perspektiven wäre das mit Sicherheit eine gute Wahl. Wir wünschen dir Kraft für die Arbeit im Landtag und an der Basis, weiter so viel Power und danke für das Gespräch.